«Der jungen Generation stehen grosse Herausforderungen bevor!»

    Das Wohlbefinden und die Bedürfnisse junger Menschen sollen solidarisch stärker Beachtung finden. Im Zusammenhang mit dem Covid-19-Zertifikat oder allfälligen Privilegien für Geimpfte dürfen junge Menschen nicht benachteiligt werden. Dafür setzt sich Katja Schönenberger, Direktorin von Pro Juventute, ein. Hier spricht sie über das Mitspracherecht der Jugendlichen, die digitale Welt sowie die Solidarität der jungen Generation.

    (Bild: zVg) Katja Schönenberger, Direktorin von Pro Juventute: «Wir setzen uns seit Ausbruch der Corona-Pandemie dafür ein, dass die Bedürfnisse der jungen Generation berücksichtigt werden.»

    Wie geht es den Jugendlichen in der Schweiz, mal abgesehen von der Pandemie?
    Katja Schönenberger: Die Jugendlichen in der Schweiz sind neugierig, absolvieren grossmehrheitlich eine Lehre und sind immer stärker politisiert und engagieren sich in Bewegungen. Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen dominieren aktuell den Alltag der Jugendlichen.

    Wie haben die Jugendlichen die Pandemie bis jetzt gemeistert?
    In unserem täglichen Kontakt mit rund 700 Jugendlichen sehen wir, dass ihnen vor allem die sozialen Einschränkungen zu schaffen machen. Sie vermissen ihre Freunde, sind einsam, haben Zukunftssorgen. Es gibt aber auch Hoffnungsvolles. Die Jugendlichen stärken ihre Kompetenzen, zum Beispiel in der digitalen Welt und auch in der Krisenfestigkeit. Und wir erleben eine grosse Solidarität der jungen Generation mit der älteren Generation.

    Was sind zurzeit die grössten Herausforderungen für die jungen Menschen?
    Gehört zu werden. Wir stellen als grösste Fachorganisation für Kinder und Jugendliche fest, dass die Stimme und die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der öffentlichen Debatte nicht immer genügend Gehör finden.

    Pro Juventute fordert eine Post-Corona-Strategie. Was verstehen Sie darunter?
    Wir wollen gemeinsam mit einer breiten Allianz von Kinder- und Jugendorganisationen, dass die mittel- und langfristigen Folgen der Corona-Pandemie angegangen werden. Aus unserer Sicht braucht es eine Mitsprachemöglichkeit für Kinder und Jugendliche in dieser Jahrhundertkrise, es ist wichtig, dass es mehr Unterstützung gibt bei psychischen Problemen und beim Übertritt ins Berufsleben.

    Wir haben die 3. Welle langsam überstanden, weitere Öffnungsschritte stehen bevor. Braucht es denn diese Post-Corona-Strategie wirklich noch?
    Unbedingt, denn der jungen Generation stehen grosse Herausforderungen bevor! Wir sehen, dass die psychischen Probleme sich verstärkt haben, die Chancengerechtigkeit in der Bildung sich verschlechtert und der Übergang ins Berufsleben schwieriger geworden ist. Dafür braucht es jetzt eine Strategie. Wenn wir diese Folgen nicht strategisch angehen, riskieren wir mit der «Generation Corona» eine «Generation lost» zu erhalten.

    Welche Rolle spielt das Sorgentelefon 147.ch bei der psychischen Gesundheit der jüngeren Generation?
    Mit unserem kostenlosen und vertraulichen Angebot sind wir eine niederschwellige Erstanlaufstelle bei Problemen aller Art. Wir sind jeden Tag und rund um die Uhr für Kinder und Jugendliche da. Bei uns arbeiten professionelle Beraterinnen und Berater, die eine pädagogische oder psychologische Ausbildung haben. Durch das Angebot ist immer jemand für Kinder und Jugendliche da, wenn sie es brauchen.

    Die Generation Z ist mit dem Internet und dem Smartphone aufgewachsen. Sie ist quasi den ganzen Tag online und in den sozialen Medien unterwegs. Dennoch fehlt plötzlich der persönliche, reale Kontakt. Wie ist das zu erklären?
    Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie, dass der direkte und persönliche Austausch mit Gleichaltrigen zentral ist für Jugendliche. Im Austausch mit anderen definieren und festigen sie ihre Identität. Das Chatten alleine wird diesem Bedürfnis nicht gerecht.

    Fast zwei Drittel der 10- bis 11-Jährigen in der Schweiz haben ein eigenes Smartphone. Sie tauchen bereits in jungen Jahren in die digitale Welt ein. Welche Gefahren und Herausforderungen lauern da?
    Es gilt zu betonen, dass die Nutzung des Smartphones auch Chancen eröffnet. Kinder und Jugendliche lernen bereits in jungen Jahren die digitale Welt kennen, stärken so ihre Kompetenzen, können kreativ sein. Doch es gibt eben auch diese Schattenseiten: Mobbing, sexuelle Belästigung und Gewalt sind im Internet weit verbreitet. Mehr als ein Viertel der 12- bis 13-Jährigen gibt an, im Internet schon einmal von einer fremden Person mit unerwünschten sexuellen Absichten angesprochen worden zu sein.

    Was raten Sie Eltern bezüglich des Umgangs ihrer Kinder mit der digitalen Welt?
    Wir raten vor allem zum Dialog und zur Befähigung anstelle von Verboten oder Kontrolle. Eltern sollten mit ihren Kindern über die Interessen sprechen, ausprobieren lassen und begleitend zur Seite stehen. Medienkompetenz ist für uns eine Schlüsselkompetenz. Wir fördern daher die Medienkompetenz von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in Veranstaltungen und unserer «wup» App.

    (Bild: pixabay) Die Pro Juventute gibt der jungen Generation eine Stimme.

    Welche Idee steckt hinter der «wup» App und welches Echo haben Sie erhalten?
    Die «wup» App weist Kinder auf Online-Risiken hin und unterstützt sie mit spezifischen Tipps bei ihren ersten Erfahrungen mit dem Smartphone. Sie erkennt mit Hilfe künstlicher Intelligenz kritische Inhalte wie Nacktbilder, Mobbing oder die Herausgabe persönlicher Daten und schützt Kinder und Jugendliche im Umgang mit Social-Media- und Messenger-Diensten. Die ersten Rückmeldungen sind positiv. Wir arbeiten weiter daran, das Angebot bekannter zu machen und auch weiter zu entwickeln.

    Was sind zurzeit noch weitere wichtige Sensibilisierungskampagnen oder Projekte der Pro Juventute?
    Wir setzen uns seit Ausbruch der Corona-Pandemie dafür ein, dass die Bedürfnisse der jungen Generation berücksichtigt werden. Wir haben eine Suizidpräventionskampagne mit dem Kanton Zürich durchgeführt, die «wup» App lanciert und unseren Präsenz in den Regionen gestärkt. So sind wir im Kanton Aargau mit unserer Regionalstelle Mittelland präsent und näher an der Zielgruppe im Kanton.

    Wie können wir den Jugendlichen zu Seite stehen und ihnen Mut machen?
    Belohnen wir die Solidarität der jungen Generation. Sie haben Grossartiges geleistet. Seit einem Jahr schützen sie Risikopersonen, auch wenn sie stark unter den Einschränkungen leiden. Geben wir ihnen eine Stimme und nehmen wir ihre Bedürfnisse ernst.

    Interview: Corinne Remund


    Zur Person

    Katja Schönenberger ist seit Juli 2016 die Direktorin von Pro Juventute. Davor leitete sie das Marketing bei der grössten Schweizer Stiftung für Kinder und Jugendliche, die mit 147.ch eine Erstanlaufstelle für Kinder und Jugendliche in Problemsituationen bietet. Sie verfügt über einen Executive MBA der Universität Zürich.


    Pro Juventute unterstützt Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern seit über 100 Jahren auf dem Weg zu selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Persönlichkeiten. Mit vielfältigen Angeboten hilft die Stiftung direkt und wirkungsvoll. Davon profitieren jährlich über 300’000 Kinder und Jugendliche und fast 140‘000 Eltern in der Schweiz. Pro Juventute unterstützt Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, damit sie eine authentische Identität, gesundes Selbstbewusstsein und ein Bewusstsein von Werten entwickeln können. Damit möglichst viele Kinder, Jugendliche und ihre Familien Unterstützung und Hilfe erhalten, ist Pro Juventute in allen Teilen der Schweiz mit fünf Regionalstellen – Regionalstelle Tessin, Mittelland, Westschweiz, Zentralschweiz und Ostschweiz – präsent. www.projuventute.ch

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